Leobschütz / Oberschlesien: Eine private Homepage zur Erinnerung an die Kultur und die Menschen in der Stadt und dem Kreis Leobschütz O/S von Kurt Sander.
Das Ende einer deutschen Stadt – Flucht und Vertreibung
Am 16. März 1945 gibt es den ersten Fliegerangriff auf Leobschütz. Der Ring, das Rathaus, die Kreuzstraße, Laubenstraße und Taumlitz werden getroffen. Es gibt die ersten Toten. Weitere Angriffe der russischen Luftwaffe bringen im ganzen Stadtgebiet große Zerstörungen durch Brand- und Sprengbomben.
Am 17. März 1945 ist Leobschütz fast ausgestorben. Um 13.00 Uhr wird die Zwangsevakuierung befohlen. Die verunsicherte Bevölkerung flieht vor den Russen in Richtung Westen. Unzählige Trecks sind in Richtung Jägerndorf und in das Sudetenland unterwegs. Um 14.30 Uhr und 17.00 Uhr fahren die letzten Sonderzüge aus Leobschütz ab. Von den 14.000 Einwohnern der Stadt sind etwa 250 zurückgeblieben.
Am 24. März 1945 marschieren russische Abteilungen in Leobschütz ein.
Am 11. Mai 1945 übernimmt die polnische Administration die Stadt von den Russen.
In Massen kehrt die geflüchtete Bevölkerung in die Stadt und die Gemeinden zurück. Anfang Juni 1945 sind ca. 3.500 Leobschützer schon wieder in der Stadt. Unter schwierigsten Bedingungen versuchen sie einen Neuanfang. Für sie beginnt ein unvorstellbarer Leidensweg.
Zeitgleich treffen die ersten Repatrianten in Glubczyce – wie Leobschütz nun auf polnisch genannt wird – ein. Die Umsiedlung der polnischen Bevölkerung aus Ostpolen hat begonnen.
Mitte Juni 1945 wird von der polnischen Verwaltung die Aussiedlung aller Deutschen angekündigt. Zwangsarbeit, Verhaftungen und Verschleppungen waren auf der Tagesordnung.
Bilder: Mit freundl. Genehmigung von H. Rathmann
Leobschützer Todeszug
Stellvertretend für den Leidensweg der deutschen Bevölkerung aus der Stadt und dem Landkreis Leobschütz der folgende Bericht eines Augenzeugen über die Vertreibung aus Leobschütz in Oberschlesien im September 1945:
Am 26. September 1945, frühmorgens gegen 5.00 Uhr, begann die Razzia gegen die Deutschen. Die polnische Miliz drang in die Häuser ein und jagte alle Deutschen auf die Straße. Die wenigsten hatten noch Zeit und Gelegenheit, etwas von ihren wenigen Habseligkeiten mitzunehmen.
Man trieb alle auf dem Ring zusammen und schaffte sie von dort teils in Lastautos, teils zu Fuß in das Lager von Marschke und Zilger. Seit sechs Wochen befand sich dort die Bevölkerung von Schlegenberg in diesem Lager. Es waren gegen 3.000 Menschen in dem Lager zusammengepfercht. Während der ganzen Nacht mussten die Männer ungeschützt im Regen stehen.
Am folgenden Tage wurde die Belegschaft des Lagers vom Stadtkommandanten und der polnischen Miliz nach der Parole ausgesondert: Frauen mit Kindern und alte Leute kommen ins Reich, arbeitsfähige Männer, Frauen ohne Kinder und junge Mädchen bleiben hier zur Arbeit.
Am 27. September 1945 gegen 5.00 Uhr nachmittags wurden die für den Abtransport bestimmten Personen zur Bahn gebracht. Nachdem man 70 bis 80 Personen wie Vieh in einen Güterwagen zusammengepfercht hatte, begann die Fahrt gegen 8.00 Uhr abends. Die polnische Miliz war dem Transport als Bewachung beigegeben. Niemand wusste, wohin die Fahrt geht.
Am 28. September 1945 kam der Transport in Neiße O/S an und wurde vier Tage auf einem toten Gleis stehen gelassen. Da keine Lebensmittel mitgenommen waren, sich auch sonst niemand um die Verpflegung kümmerte, schrien die Menschen vor Hunger nach Brot. Aber keiner gab es ihnen.
Soweit die Wagen von der polnischen Miliz geöffnet wurden, konnten die hungernden Menschen heraus und suchten sich Rüben und Kartoffeln auf den nächstliegenden Feldern. Dabei wurden viele, besonders alte Frauen, von der polnischen Miliz mit Gummiknüppeln und Gewehrkolben geschlagen. Pater Ludwig begrub in den Wällen der Festung Neiße die ersten sieben Toten. Sie waren buchstäblich verhungert.
In der Nacht drang die polnische Miliz in die Wagen ein und nahm den Frauen die Handtaschen ab, durchsuchten sie, stahlen was ihnen gefiel. Immer wieder wurde versucht, Frauen aus den Wagen herauszuziehen und sie zu vergewaltigen. Viele Kinder und alte Leute starben. Auf jeder Haltestelle wurden die Toten ausgeladen und an den Fahrdämmen, in Schanzlöchern oder auf freiem Felde beerdigt.
Die Überlebenden des Transports erreichten über Camenz, Kroischwitz, Königszelt, Striegau, Maltsch, Liegnitz, Siegersdorf, Wehrkirch, Löbau und Zittau am 11. Oktober 1945 das Lager „Kosa“ in Niederoderwitz, Kreis Zittau/Sachsen. Auf der 15-tägigen Fahrt starben 88 Menschen an Hungertod und durch Erschöpfung. Weitere 280 Personen starben an Typhus und den Folgen der Ausweisung wenige Wochen später in Zittau/Sachsen und im Lager in Niederoderwitz.
Bericht: Pfarrer N.N. aus Leobschütz aus: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, a.a.O. Bd. I 2, S. 708f (Auszug)
Wie eine Leobschützer Familie das Jahr 1945
erlebte Den nachstehenden Bericht verdanken wir Kurt
Sander. Er verfasste ihn anhand von Tagebuchaufzeichnungen seiner Schwester
Lydia. Sie war bereits damit beschäftigt, auf Zuraten von Hubert J. Lux (Vorsitzender
des Heimatausschusses der Stadt und des Landkreises Leobschütz) aus ihren
Notizen für das Heimatblatt zum 75. Jahrestag von Flucht und Vertreibung einen
Aufsatz zu schreiben, als sie plötzlich erkrankte und erblindete. Im Dezember
2021 verstarb sie 93-jährig. Der Bruder versprach ihr, den Text zu schreiben.
(ah - Redaktion Leobschützer Heimatblatt)
Der Krieg kommt an
Seit fast drei Jahren ist Krieg in Deutschland, als ich im Mai
1942 in Leobschütz geboren werde. In der Stadt und im Landkreis Leobschütz
scheint das Leben ganz normal zu verlaufen, denn der Krieg ist weit weg im
Osten Russlands. Zur Zeit meiner Geburt ahnt noch niemand, dass der kommende
Winter in Stalingrad eine entscheidende Wende im Krieg nehmen wird.
Mein Vater war bereits im 1. Weltkrieg von 1916 bis 1918 an der
Westfront in Frankreich und überlebte die verlustreiche Schlacht um Verdun.
Jetzt ist er bei der Eisenbahn am Bahnhof Leobschütz beschäftigt und macht u.a.
Dienst an der Bahnhaltestelle „Stadtforst“ und am Bahnübergang „Troppauer
Straße“, der Eisenbahnstrecke von Leobschütz nach Bauerwitz. Meine Mutter verdiente sich als Hausfrau etwas als Platzanweiserin im Kino "Le-Li" dazu.
Ich bin das Nesthäkchen in der Familie. Meine ältere Schwester
Maria (17) macht eine Ausbildung im Büro der Weinhandlung Willinger in der
Troppauer Straße (bei Rathmann). Meine jüngere Schwester Lydia (14) geht noch
in die Schule (Rote Schule). Wir wohnen in der Kreuzstraße, im Hinterhaus zum
Josefplatz, direkt neben der Pfarrkirche. An den Sonntagen flaniert die Familie, fein herausgeputzt, in der
Promenade, vorbei am Zierbrunnen, dem Philo vom Walde-Denkmal und dem
Schwanenteich, oder spaziert im Leobschützer Stadtwald bis zum Wolfsteich, wo
Vater in der Waldschenke sein Bier trinkt.
Der Winter 1944/45 war kalt und schneereich. Weihnachten 1944
feierten wir noch traditionell und hatten trotz der nahenden Front nicht
wirklich Angst. Meine ältere Schwester Maria war inzwischen
kriegsdienstverpflichtet als Stabshelferin in der Hauptverwaltung des
Lungenlazaretts in Branitz. Meine jüngere Schwester Lydia war im 1. Lehrjahr
bei der Stadtverwaltung Leobschütz.
Am 12. Januar beginnt die Rote Armee die Weichsel-Oder-Operation.
Um den 20. Januar herum hieß es dann schon bei uns: Frauen mit Kindern und alte
Leute müssen raus. Man hätte es wissen können und bestimmte Leute haben es auch
gewusst: die Lage ist sehr ernst und der Krieg ist verloren. Doch man konnte
mit niemanden darüber reden. Da waren die Verdunklungen in der Stadt, das
militärische Hin und Her zu Lande und in der Luft und die Transporte von
ausgemergelten Menschen durch den Landkreis Leobschütz. Zu unseren Verwandten
östlich der Oder, die im Kreis Rosenberg wohnten, hatten wir wegen der
russischen Kriegsfront bald keinen Kontakt mehr. Menschen fliehen unkontrolliert
und in wilder Panik. Mancherorts werden Fluchtwillige von den Kreis- und Ortsgruppenleitern
mit Durchhalteparolen und angedrohten Strafen am Verlassen der Heimat
gehindert.
Am Freitag, den 16. März 1945, erfolgt gegen elf Uhr Fliegeralarm.
Als wir Fluglärm und schließlich Einschläge hören, begeben wir uns in den
Keller unseres Hauses. Dort suchen wir immer wieder mit den anderen
Hausbewohnern Zuflucht, wenn es Alarm gibt. Um zwölf Uhr kommt meine Schwester
Lydia vom Einwohnermeldeamt, das im Volkshaus in der Coseler Straße
untergebracht ist, zum Mittagessen nachhause. Auf dem Weg entlang Baderstraße,
Kirchplatz, Josefplatz bemerkte sie noch nichts Besonderes. Erst zuhause
angekommen, sieht sie, dass vor unserem Vorderhaus in der Kreuzstraße eine
Bombe eingeschlagen war. Der Inhaber des Fahrradgeschäftes Dlugosch war dabei
schwer verletzt worden. Die nächste Bombe war in die hintere Hälfte eines
Hauses in der Laubenstraße gefallen. Da am Nachmittag immer wieder Fliegeralarm
gegeben wird, räumen wir gutes Geschirr, Wäsche, Betten usw. in unseren Keller. Viele Leobschützer hatten sich inzwischen rechtzeitig abgesetzt
und die Stadt verlassen.
Flucht aus Leobschütz
Am Samstag, 17. März 1945, kommt Papa in den frühen Morgenstunden
vom Nachtdienst heim und sagte meiner Mutter, dass wir fortmüssten und keine
Möglichkeit mehr bestünde, mit der Bahn zu fahren, da am Vorabend die letzten
Züge mit Evakuierten Leobschütz bereits verlassen hätten. Wir luden also unsere
bereits gepackten Koffer auf einen Handwagen. Mich setzte die Mutter in meinen
Sportwagen. Papa holte für mich noch eine Decke. Dann verließen wir unsere
Wohnung, um nach Jägerndorf zu gehen. Mein Vater begleitet uns. Als wir auf der
Jägerndorfer Straße uns dem Stadtrand nähern, versperren SS-Soldaten uns den
Weg. Mein Vater darf nicht weiter, er muss zurück in die Stadt. Wir nehmen
Abschied. Jetzt sind wir „Flüchtlinge“. - Mamas Worte: „Wir werden uns nicht
wiedersehen“.
Der Weg nach Jägerndorf ist mühsam. Immer wieder erscheinen
Tiefflieger und wir springen Deckung suchend in den Straßengraben. In Jägerdorf
besorgt meine Schwester Einreisegenehmigungen für das Protektorat
Böhmen-Mähren.
Inzwischen ist es Abend und wir begeben uns zum Bahnhof. Wir
wollen nach Pisek in Südböhmen. Meine Schwester Maria hat uns in den letzten
Tagen durch einen Soldaten eine Nachricht zukommen lassen, dass sie von Branitz
aus in ein dortiges Lazarett verlegt worden sei. Um die Familie
zusammenzuhalten, hatten wir mit Papa ausgemacht, nach Pisek zu fahren.
Mit dem Zug gelangen wir nur bis Olmütz. Alle mussten den Zug
verlassen und sich in den Bahnhof begeben. Dort blieben wir in der
Bahnhofshalle, die ganze Nacht und den ganzen Sonntag neben unserem Gepäck. Es
fuhren nur noch Militärzüge. Endlich kommt dann am Abend ein Zug, der
Zivilisten in Richtung Prag mitnimmt. Wir erreichen wirklich Prag und bleiben
die Nacht über im Bahnhof.
Am Montag (19.03.45) besteigen wir schließlich einen Zug nach
Pisek, wo wir am späten Nachmittag ankommen und bald auch das Lazarett finden,
zur großen Überraschung meiner Schwester Maria. Aber wohin mit uns? Schließlich
findet Maria einen Militärgeistlichen, der uns bei einer alten tschechischen
Dame unterbringt. Völlig erschöpft fallen wir in die Betten! Aber lange können
wir die Hilfsbereitschaft der alten Dame nicht in Anspruch nehmen, denn sie
muss mit Schwierigkeiten durch ihre tschechischen Nachbarn rechnen. Am 22. März
können wir in ein Flüchtlingslager, das in einer Gastwirtschaft eingerichtet
worden ist, unterkommen, und hoffen, nach wenigen Tagen bei der Leiterin des
Wohnungsamtes selbst ein Zimmer beziehen zu dürfen. Dort wohnt noch ein
Berliner Ehepaar, das aber schnell aus Pisek fortwill.
Am 29. März können wir also bei Frau Mauler-Zajce einziehen. Sie
war von einem Tschechen geschieden und hatte einen 12-jährigen Sohn. Wenn keine
Schule war, kümmert sich meine Schwester um den Jungen namens Eugen, der
natürlich zweisprachig aufgewachsen war. Für uns war das eine ungewisse Zeit,
denn wir wussten nichts von Papa, und die Tage in Tschechien wurden immer
beängstigender. Als wir am 5. Mai unterwegs sind, sehen wir, wie überall deutsche
Schilder entfernt werden und hören, dass Amerikaner angekommen seien, sehen
aber selbst keine. Die sowjetischen Truppen erreichen erst am 10. Mai die
Stadt.
Am 7. Mai hatte ich meinen dritten Geburtstag, den wir natürlich
nicht feiern konnten. In der Nacht wurden wir plötzlich aus dem Schlaf
gerissen, als an die Wohnungstür gedonnert wurde. Da standen nun tschechische
Uniformierte, die die Wohnung von Frau Mauler-Zajce durchsuchten und sie schließlich
mitnahmen. Wir hörten von ihr nichts mehr.
Uns ließ man in Ruhe.
Am 11. Mai werden wir Deutsche aufgefordert, sich in ein Lager in
der Mitte der Stadt Pisek zu begeben. Das Gebäude, in das wir gepfercht werden,
ist völlig überfüllt. Manchmal werden einige von uns zu Aufräum- oder
Gartenarbeiten herausgeholt.
Am 18. Mai wird bekanntgemacht, wir sollten uns bereit machen, um
Pisek zu verlassen. Es formiert sich ein langer Zug von Menschen. Jeder
schleppt sein Gepäck. Wir ziehen nun zu einem Platz außerhalb von Pisek, zum
„Wasserplatz“. Dort lagern schon Massen von Menschen unter freiem Himmel. Da sehen
wir auch die ersten Russen, die Frauen herauszusuchen. Es beginnt zu regnen. So
verbringen wir die ganze Nacht, nur ungenügend geschützt von unseren
Regenschirmen.
Der nächste Tag war Samstag vor Pfingsten. Es ging nun zu Fuß los,
wie wir später erfuhren, nach Moldauthein. Dort angekommen, müssen wir uns auf
einen völlig überfüllten Platz oberhalb der Stadt begeben. Unter freien Himmel
suchen wir uns also eine Stelle, an der wir uns niederlassen können. Da waren
wir nun festgenagelt für die nächsten Tage, Pfingstsonntag und Pfingstmontag.
Verpflegung gibt es keine, außer drei kleine Kartoffeln für die kleinen Kinder
am Pfingstmontag.
Am Dienstag (22. Mai) müssen alle weiterziehen. Es fahren
Pferdewagen vor und die Leute müssen mit ihrem Gepäck aufsteigen. Als wir an
der Reihe sind, laden wir unsere Koffer und Taschen auf ein Fuhrwerk, doch es
hat nur noch eine Person Platz. Mama will, dass Lydia bei unserem Gepäck
bleiben soll. Leider kommen Mama, Maria und ich nicht auf den nächsten Wagen,
und der Wagen mit Lydia und dem Gepäck fährt davon. Nun sind wir getrennt.
Nun gibt es zwei Wege.
Mama, Maria und ich gelangen später ohne unser Gepäck auf ein
anderes Fuhrwerk. Wohin die Fahrt geht, niemand weiß es. Plötzlich stehen wir
völlig unvermittelt an der bayerischen Grenze. Aber niemand wird
hinübergelassen von den Amerikanern. Sie fordern uns auf, zurück in die Heimatorte
zu wandern. (Später wird man diese Entscheidung einmal nicht verstehen können,
aber wir widersprachen damals nicht, denn alle wollten heim, nach Hause, in
unsere Heimat, nach Leobschütz – ohne zu ahnen und zu wissen, was uns dort
erwarten würde).
Vor uns liegen nun 400 Kilometer, quer durch Böhmen und Mähren, zu
Fuß und ohne Verpflegung. Schon unter normalen Umständen ist das eine enorme
Strapaze, aber jetzt kam auch noch der Hass und die Willkür der Tschechen dazu.
Wir waren uns selbst überlassen und konnten keine Hilfe erwarten.
Unterwegs kamen uns Hunderte (oder waren es Tausende?) der
deutschsprachigen Einwohner aus Böhmen und Mähren entgegen. Frauen, Kinder,
Kleinkinder, Säuglinge, alte Männer. Viele waren den Strapazen des Marsches in
größter Hitze und ohne organisierte Wasser- und Nahrungsmittelversorgung nicht
gewachsen und brachen am Straßenrand zusammen, wo sie liegen blieben.
Unser Weg durch die Tschechoslowakei in unsere Heimat führt uns
auch an Brünn vorbei, wo zu dieser Zeit am 31. Mai, dem Fronleichnamstag, rund
27.000 Menschen vertrieben werden. Es ist der berüchtigte „Brünner Todeszug“.
Mutti und Maria entscheiden, überwiegend nachts, also in der Dunkelheit und
unter Umgehung der Ortschaften, zu laufen. Trotzdem haben sie Schlimmes erlebt
und erlitten, denn sie wollen eines Tages ins Wasser gehen, wie so viele andere
in dieser Zeit. Doch: da war ja noch ich! Meine Schwester Maria hat ihr ganzes
Leben, bis zum letzten Atemzug, nie über diese schrecklichen Tage während des
Rückmarsches in die Heimat gesprochen.
Nach 23 Tagen unserer Odyssee gelangen wir am 14. Juni bei Branitz
in den Kreis Leobschütz. Wie wir das geschafft und überlebt haben, bleibt mir
ewig ein Rätsel. Wir hatten in Branitz eine Großtante, die Schwester Blandina,
die als Ordensschwester in der Heil- und Pflegeanstalt wirkte, bei der wir uns
einige Tage ohne Angst ausruhen durften. Endlich wieder in einem Bett schlafen
und zum ersten Mal nach vielen Wochen wieder etwas zu essen!
Am 18. Juni machen wir uns von Branitz aus auf den Weg nach
Leobschütz. Drei Monate nach unserer Flucht stehen wir, Mama, Maria und ich,
mittags auf dem Josefplatz vor unserem Haus.
Und was ist aus Lydia, nach unserer Trennung in Moldauthein,
geworden? Ihr Treck fuhr in die andere Richtung zu einem Güterbahnhof (Tabor).
Dort stand ein Güterzug bereit. Die Nacht verbrachten sie und die anderen
Flüchtlinge in den offenen Wagen. Niemand durfte aussteigen. Im Laufe des
nächsten Tages (23. Mai) setzte sich der Zug in Bewegung. Er fuhr nicht sehr
schnell und hielt immer wieder. Gegen Abend stand er dann außerhalb von Prag
und dort blieben sie in dieser Nacht.
Am 24. fuhr der Zug endlich weiter. Die abenteuerliche Fahrt ging
über Königgrätz bis Wartha. Unterwegs mussten sie aussteigen und mit ihrem
Gepäck über einen Berg, da ein Tunnel gesprengt war. Erst am nächsten Tag (26.
Mai) fuhr ein Zug in Richtung Neisse, Neustadt OS bis Deutsch-Rasselwitz. Hier
wartete sie vergebens auf einen Zug nach Leobschütz. Die Nacht verging und der
nächste Tag, ein Sonntag. Es wurde wieder Nacht. Als am Montag (28.) immer noch
niemand sagen konnte, wann ein Zug fahren würde, entschloss sie sich, mit
anderen Rückkehrern zu Fuß nach Leobschütz zu gehen. Als sie schließlich nach
Kittelwitz kamen, erzählten Leute im Dorf, dass in Leobschütz Typhus wüte und
niemand aus der Stadt herausdürfe. Die anderen Leute waren aus Dörfern östlich
von Leobschütz, die deshalb die Stadt umgehen wollten. Da Lydia die vier Koffer
der Familie nicht allein tragen konnte, stellte sie das Gepäck in einem
Bauernhof ab
Rückkehr nach Leobschütz - Glubczyce
Lydia machte sich dann allein auf den Weg nach Leobschütz (28. Mai 1945). Sie
hatte Angst, aber sie traf niemand auf der Straße. Als sie sich dem Friedhof
näherte, erkannte sie die Kirchtürme der Pfarrkirche und den Stumpf des
Rathausturmes. Auf diesem Weg in die Stadt merkte sie noch nichts von den
Zerstörungen, die sie in der Innenstadt sehen sollte. Von der Pfarrkirche aus
sah sie, dass die Kreuzstraße fast vollständig zerstört war. Über den
Kirchplatz näherte sie sich dem Josefplatz. Da standen noch einige Häuser, auch
das Hinterhaus von der Kreuzstraße 5, in dem wir gewohnt haben. Vorsichtig
betrat sie das Haus. Alle Türen standen auf, der Boden war mit Abfall bedeckt.
Sie ging in den 1. Stock in unsere Wohnung. Umherfliegende Bettfedern waren der
erste Eindruck. Das Inlett fehlte, denn die Russen machten daraus rote Fahnen.
Verdorbene Lebensmittel bedeckten Tisch und Boden. Es gab keine Bettgestelle.
An der Nähmaschine fehlte der Kopf. Es waren so viele Dinge, die auf sie
einstürmten! Und da war sie ganz allein. Mit anderen Erwachsenen zog sie in den
1. Stock des Hauses von Schneider Franke. Man versuchte die Türen zu sichern.
Es sah überall fürchterlich aus. Aus Kellern, die nicht zerstört waren, holten
sie Kartoffeln. Wasser musste in der Langen Straße geholt werden. Das war nicht
ungefährlich, besonders für sie als 16-jähriges Mädchen.
Nach einigen Tagen wollte sie unser abgestelltes Gepäck von dem
Bauernhof in Kittelwitz abholen, das sie während der gesamten Flucht geschleppt
hatte, und erlebte dort eine herbe Enttäuschung. Man sagte ihr, die Russen
hätten zwei der vier Koffern mitgenommen. Es waren die Koffer von Mutti und
ihrer. Mit dem Koffer meiner Schwester Maria und von mir ging sie zurück nach
Leobschütz.
Inzwischen war es Mitte Juni. Nur wenige Leobschützer waren
inzwischen zurück. Von unserer Familie hatte Lydia noch nichts gehört und
wusste nichts über deren Verbleib. Groß war deshalb die Freude, als am 18. Juni 1945
Mutti, Maria und ich auf dem Josefplatz standen. Jetzt zogen wir in unsere
Wohnung. Wir waren wieder zusammen, doch von unserem Papa wussten wir weiterhin
nichts. In dem Chaos und den Wirren der Nachkriegszeit erfuhren wir erst an
Weihnachten 1945, wo er ist und wie es ihm geht. Nachdem die Russen am 24. März
Leobschütz eingenommen hatten, die deutsche Führung sich schon längst aus dem
Staub gemacht und abgesetzt hatte, schloss Papa die Türen des Bahnhofs und
machte sich auf den Weg in Richtung Westen.
Als wir in die Heimatstadt zurückkamen, merkte man, dass Polen von
Leobschütz Besitz ergriffen hat. Seit dem 19. Mai gibt es eine polnische
Verwaltung. Mutti und meine Schwestern müssen sich zur Arbeit melden, denn
damit sind Zuteilungen von Essensrationen verbunden. Meinen Schwestern blieb
besonders in Erinnerung das Gräberschaufeln im Garten von Maria Treu für
gefallene russische Soldaten. Die Leichen wurden aus dem Umkreis geholt und bei
Maria Treu bestattet.
Die längste Zeit arbeiten meine Schwestern in der Wäscherei beim
polnischen Militär. Im Garten des Schützenhauses waren Waschkessel eingemauert
worden und da wurde die Wäsche der Soldaten von einer Gruppe deutscher Frauen
gewaschen. Lydia war die jüngste von ihnen. Anfangs hatten sie einen sehr
anständigen Unteroffizier als Aufsicht. Er nahm Maria und Lydia immer mit, wenn
saubere gegen schmutzige Wäsche eingetauscht wurde. Sie zogen dann ihren Wagen
die Holländer-Promenade, Graf-Haeseler-Straße, Höferstraße entlang. Am Ende der
Höferstraße war die Gartenmauer vom Grundstück Dorminger durchbrochen und in
der Villa Dorminger war das Magazin des Militärs. Da bekamen sie auch
Lebensmittel. Mittag wurde Suppe
gekocht. Meine Schwestern nahmen Suppe und Brot mit nachhause, denn Mama und
ich bekamen ja nichts. Mutti wurde oft zum Straßenkehren, ja sogar zum
Kohleabladen geholt, obwohl sie sehr schwach war. Ich saß dann am Randstein und
spielte mit Steinchen. Der Aufseher meiner Schwestern in der Wäscherei holte
uns manchmal am Sonntag und dann bekam ich eine Scheibe Brot mit Butter und
Zucker. Das war eigentlich verboten.
In der Zwischenzeit hatte sich manches ereignet. Oft wurden
Deutsche aus ihren Wohnungen geworfen. So war es auch Frau Smuda und ihrer
Tochter ergangen. Sie zogen deshalb zu uns. Ursel Smuda und Maria waren seit
ihrer Schulzeit Freundinnen. Es war eine Zeit der Gesetzlosigkeit mit Rache,
Willkür, Plünderungen und Vergewaltigungen
Vertreibung aus Leobschütz
Am Mittwoch, 26. September, erschien plötzlich in der Früh, bevor
meine Schwestern zur Arbeit gehen wollten, Miliz auf dem Josefplatz. Man
befahl, so schnell wie möglich die Wohnung zu verlassen. Wir packten unsere
wenigen Sachen zusammen und begaben uns auf die Straße. Alle Deutschen aus der
Umgebung fanden sich ein. Schließlich zogen wir unter Bewachung los in Richtung
Ring. Aus allen Richtungen kamen Deutsche. Nur langsam bewegte man sich durch
die Stadt, die Troppauer Straße und Ratiborer Straße entlang. Wir kamen endlich
auf dem Gelände der ehemaligen Landmaschinenfabrik von Marschke und Zilger an.
Da waren bereits viele Menschen unter freiem Himmel. Als es Abend wurde,
versuchten wir in einer Halle Unterschlupf zu finden und etwas auszuruhen. In
der Früh mussten wir uns auf dem Platz aufhalten. Nun begannen die Soldaten mit
dem Aussortieren der Deutschen nach Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit.
Maria und Lydia mussten auf eine Seite gehen - und Mama und ich auf die andere.
Unsere Familie war wieder getrennt.
Am Nachmittag führte man die Mädchen und junge Frauen, ohne noch
einmal Mutti und mich zu sehen, aus dem Lager zurück in die Stadt zu dem
Bauernhof am Beginn des Hohenzollernplatzes/Ecke Am Graben. Meine Schwestern
erschraken, denn in diesem Hof hatten Polen deutsche Männer vorher eingesperrt
und misshandelt. Sie wurden in Zimmer mit Stockbetten eingewiesen und mussten
da bis zum nächsten Morgen bleiben. Alle fürchteten, dass man sie in den Osten
verbringen könnte, ähnlich wie es Polinnen und Russinnen umgekehrt ergangen
war.
Mutti und ich wurden Opfer der wilden Vertreibung aus unserer
Heimat, als Teil des „Leobschützer Todeszugs“, obwohl das Abkommen von Potsdam
im August 1945 festlegte, die deutsche Bevölkerung in „geordneter und humaner
Weise“ ins restliche Deutschland umzusiedeln.
Über den „Todeszug“ berichtet ein Leidensgenosse in einem
authentischen Bericht: Am 26. September früh morgens gegen 5 Uhr
begann die Razzia gegen die Deutschen. Die polnische Miliz drang in die Häuser
ein und jagte alle deutschen Bewohner auf die Straße. Die wenigsten hatten noch
Zeit und Gelegenheit, etwas von ihren wenigen Habseligkeiten mitzunehmen. Man
trieb alle auf dem Ring zusammen und schaffte sie von dort, teils mit
Lastautos, teils zu Fuß, in das Lager Marschke und Zilger. Seit 6 Wochen befand
sich die Bevölkerung von Schlegenberg in diesem Lager. Während der ganzen Nacht
mussten die Männer ungeschützt im Regen stehen. Am folgenden Tage wurde die Belegschaft des
Lagers vom Stadtkommandanten und der polnischen Miliz in Bezug auf die
Arbeitsfähigkeit der Einzelnen ausgesondert: Frauen mit Kindern, junge Mädchen,
Frauen ohne Kinder, arbeitsfähige Männer - die Parole hieß: „Frauen mit Kindern
und alte Leute kommen ins Reich“, „arbeitsfähige Männer, Frauen ohne Kinder und
junge Mädchen bleiben zur Arbeit“. Es waren gegen 3.000 Menschen, die in dem
Lager zusammengepfercht waren. Am 27. September gegen 5 Uhr nachmittags wurden
die für den Abtransport bestimmten Personen zur Bahn gebracht. Unter ihnen
befand sich auch der Franziskanerpater Bogdanski. Transportleiter war Kantor
Bossutzki, Leobschütz. Nachdem man 70 bis 80 Personen wie Vieh in einen
Viehwagen gezwängt hatte, begann die Fahrt gegen 8 Uhr abends. Die polnische
Miliz war als Bewachung beigegeben. Niemand wusste, wohin die Fahrt ging. Am 28. September kam der Transport in Neisse
an und wurde 4 Tage auf einem toten Gleis stehen gelassen. Da keine
Lebensmittel mitgenommen worden waren, sich auch sonst niemand um Verpflegung
kümmerte, schrien die Menschen vor Hunger nach Brot, aber keiner gab es ihnen.
Soweit die Wagen von der polnischen Miliz geöffnet wurden, konnten die
hungernden Menschen heraus und suchten sich Rüben und Kartoffeln auf den
nächstliegenden Feldern. Dabei wurden viele, besonders alte Leute, von der
polnischen Miliz mit Gummiknüppeln und Gewehrkolben geschlagen. Pater Ludwig
begrub in den Wällen der Festung Neisse die ersten 7 Toten. Sie waren
buchstäblich verhungert. Weiter ging die Fahrt. In der Nacht drang die
polnische Miliz in die Wagen ein und nahm den Frauen die Handtaschen ab,
durchsuchten sie, stahlen, was ihnen gefiel; den Männern wurde das Geld
abgenommen. Immer wieder wurde versucht, Frauen aus den Wagen herauszuziehen
und sie zu vergewaltigen. Wenn der Zug auf freier Strecke hielt und die Miliz
die Wagen öffnete, stürzten sich die hungernden Menschen hinaus in die Felder,
um einige Rüben oder Kartoffeln für ihren Hunger zu finden. Auf jeder
Haltestelle wurden die Toten ausgeladen und an den Fahrdämmen, in Schanzlöchern
oder auf dem freien Felde beerdigt. Kurz vor Görlitz wurden die Evakuierten von
den Russen und polnischem Begleitpersonal noch einmal gründlich ausgeplündert. In Löbau / Sachsen, der ersten deutschen
Grenzstation, wo der Transport am 10. Oktober anlangte, gab es von der
deutschen Verwaltung die erste Verpflegung: pro Kopf ¼ Brot mit Quark und eine
Mehlsuppe. Von Löbau wurde der Transport nach Zittau und von dort nach
Niederoderwitz geleitet. Auf der 15-tägigen Fahrt starben 88 Menschen den
Hungertod und durch Erschöpfung. Die frühere Schokoladenfabrik „Kosa“, wo wir
nach Aussage der Lagerleitung nur wenige Tage bleiben sollten, wurde auf Monate
unser Gefängnis. Die Leobschützer Flüchtlinge bezogen Saal 1 und 2. In jedem
Saal waren etwa 600 Menschen beisammen. Die Verpflegung betrug pro Tag und Kopf
75 Gramm Brot, einen Löffel Suppe aus Rapskuchen, Dörrgemüse und mit Schale
geschnitzelten überbrühten Kartoffeln. Dass von solcher Verpflegung sehr viel
krank wurden, ist einleuchtend. Es herrschten Typhus und Krätze, der Kopf- und
Kleiderläuse konnte man sich nicht erwehren. Viele Kinder und alte Leute
starben. Nachdem es später wegen der unzureichenden
Verpflegung zu einem Tumult gekommen war, wurde die Verpflegung besser. Sie
betrug jetzt pro Tag und Kopf 300 Gramm Brot, eine dicke Suppe und 10 Gramm
Butter. Wer eine Einreisegenehmigung nachweisen konnte, durfte das Lager
verlassen. Die Anschrift der Lagerinsassen lautete: Flüchtlingslager „Kosa“
Niederoderwitz, Kreis Zittau in Sachsen. [Bericht aus: Dokumentation der Vertreibung
der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, a.a.O. Bd. I 2, S. 708f]
Ich erinnere mich etwas, dass ich in dem großen Saal mit den
vielen Menschen immer nur in dem Doppelstockbett saß, abgemagert, kraftlos und
apathisch schaute. Immer nur Hunger, Hunger, Hunger. Zum Spielen hatte ich
nichts und niemanden. Ich war einsam und allein unter Alten und Sterbenden.
Niemand hätte sich um mich sonst kümmern oder sich meiner annehmen können, denn
jeder war sich in dieser Situation selbst der Nächste und kämpfte selbst um das
nackte Überleben. Mutti war so schwach und krank, dass sie sich schon lange
nicht mehr um mich kümmern konnte. Mitte November kam sie dann in das
Hilfskrankenhaus „Drei Kronen“ in Zittau. Sie überlebte die Strapazen von
Flucht und Vertreibung nicht und starb am 29. November 1945. Jetzt war ich in
dem Chaos der Vertreibung und den Wirren der Nachkriegszeit ganz allein und
verloren. Eine verlorene unbeschwerte Kindheit, geprägt und traumatisiert für
ein ganzes Leben!
Aber ich hatte unwahrscheinliches Glück und einen Engel: Ursula
Smuda, die Freundin meiner Schwester Maria. Sie war damals schon für ihr Alter
resolut, durchsetzungsfähig und ließ sich nicht so leicht abweisen. Später aber
sagte sie mir einmal: „Ich war 19 Jahre alt. Da sollte ich Entscheidungen
treffen. Es war schon verdammt schwierig. Ich hätte selbst jemanden gebraucht,
der mir gesagt hätte: Mensch mach das so oder so.“ Sie nahm sich in Leobschütz
eine polnische „Rotkreuz-Armbinde“ und bestand gegenüber der polnischen Miliz
darauf, als Rotkreuzhelferin in dem Transport der Vertriebenen mitfahren zu
können. Die Polen hatten vor diesen „Armbandträgern“ Respekt. Sie wollte ihre
Mutter und den Opa nicht alleine lassen. Am Bahnhof traf sie meine Schwester
Maria, die ihr noch sagte: „Ursel, pass mir auf die Mama und den Kurti auf!“
Ursel kümmerte sich um meine kranke Mutti und organsierte für die
damalige Zeit eine würdevolle Beerdigung mit Sarg und Gesang in Zittau. Und auf
einmal kam sie wie die Jungfrau zum Kinde und hatte mit ihren 19 Jahren die
Verantwortung für einen 3-jährigen Jungen. In der Handtasche von Mutti fand
Ursel eine Postkarte mit der Anschrift einer Tante von mir, Tante Emmi in
Leipzig, der einzigen Verwandten in der sowjetischen Zone.
Obwohl zu dieser Zeit niemand das Lager in Zittau verlassen
durfte, wollte Ursel mich zu dieser Tante bringen und schaffte es, für mich
eine Zuzugs- und Aufenthaltsgenehmigung für die Stadt Leipzig zu bekommen. Für
alles brauchte man einen Schein, eine Genehmigung und Erlaubnis. Sie brachte
mich nach der Beerdigung von Mutti am 15. Dezember noch vor Weihnachten zu
meiner Tante. Tante Emmis Mann war der jüngste Bruder meiner Mutter und war
seit Stalingrad vermisst. Sie hatte zwei Kinder, Evelyn (12) und Johannes (10).
In dem damals herrschenden Chaos kam es noch einmal zu einer für
mich kritischen und bedrohlichen Situation, als mich fremde Menschen durch das
offene Fenster in den überfüllten Zug zogen. Ich muss vor Angst geplärrt haben,
von meinem Engel und meiner einzigen Bezugsperson, an die ich mich immer festklammerte,
getrennt zu werden und sie zu verlieren. Ursel holte man dann auf die gleiche
Art und Weise in den Zug. In den Trümmern des zerstörten und ihr unbekanntes
Leipzig brachte sie mich schließlich zu meiner Tante, meinem neuen Zuhause für
die nächste Zeit.
Was wurde aus Maria und Lydia nach der Trennung in Leobschütz von
Mutti und mir? Nach der Aussortierung und unserer Trennung im Lager von
Marschke und Zilger forderte ein Pole Maria, Lydia und Lydias Schulfreundin Gerda
Müller auf, mitzukommen. Sie folgten dem Mann durch die Stadt und kamen
schließlich in die König-Ottokar-Straße in das Haus gegenüber vom Landratsamt.
Es stellte sich dann heraus, dass hier die Leitung von „SpoĊem“ war, einer
staatlichen Einrichtung, die Lebensmittel verwalten und verteilen sollte, die
Polen wahrscheinlich aus dem Westen (UNRRA) bekam. In der benachbarten
Eierzentrale wurden die Lebensmittel gelagert.
In dem Haus in der König-Ottokar-Straße waren im Erdgeschoss
Büroräume und eine Küche zur Verpflegung der Angestellten. Die Leitung hatte
eine etwa 25-jährige Polin, die im Krieg in Niederschlesien arbeiten musste und
deshalb den schlesischen Dialekt sprach. Meine Schwester Maria musste bei ihr
arbeiten. Lydia sollte im Haushalt des ersten Chefs arbeiten und in der Früh die
Büroräume säubern. Gerda kam zum zweiten Chef. Wenn Lydia in den Büros
arbeitete, kam der Chef immer wieder und näherte sich ihr zudringlich.
Zwischen Maria und der Polin entwickelte sich in Laufe der Zeit
ein gutes Vertrauensverhältnis. Maria sagte ihr, dass sie und Lydia flüchten
wollten, um die Familie zu suchen, da sie bis jetzt nichts gehört hatten und
über deren Verbleib und Schicksal nichts wussten, und sich daher große Sorgen
machten. Da Maria schon immer gut in Handarbeit war, sollte sie ihr einen
Pullover und eine Strickjacke stricken und sie würde ihr mit Geld und
Verpflegung helfen.
Anfang Dezember machten sich Maria und Lydia auf die nicht
ungefährlich Flucht und durften dabei nicht entdeckt zu werden. Da eine Flucht
durch die Tschechoslowakei keine Option war, entschlossen sie sich über Görlitz
nach Leipzig zu Tante Emmi zu kommen. In Frankenstein, das sie von ihren Ferien
bei Tante Consolata, die dort vor ihrer Ausreise mit einem Lazarettzug Oberin
im Krankenhaus St. Antonius war, kannten, machten sie eine kleine Pause. Über
Görlitz kamen sie nach Dresden und dann ging es in überfüllten Zügen nach
Leipzig. Am 22. Dezember wurde Lydia 17 Jahre alt und am 23. Dezember, einen
Tag vor Heilig Abend, standen sie überraschend vor der Tür bei Tante Emmi.
Unvorstellbar groß war für mich die Freude, endlich wieder von
meinen Schwestern in die Arme genommen zu werden. Jetzt erfuhren Maria und
Lydia auch, dass Mutti verstorben war und Papa, der sich auch bei Tante Emmi
gemeldet hatte, seit seiner Flucht aus Leobschütz, nun bei der Eisenbahn in
Forchheim/Oberfranken, in Bayern, in der amerikanischen Zone ist. Einen Monat
blieben Maria und Lydia in Leipzig, um sich dann auf den Weg zu Papa zu machen.
Das war nicht einfach, um von der sowjetischen in die amerikanische Zone zu
kommen. Nach mehreren Versuchen haben sie es dann aber geschafft, bei Sonneberg
über die Grenze zu kommen und unseren Papa, nach unserer Trennung und Flucht
aus Leobschütz am 17. März 1945, zu überraschen.
Natürlich wollte man auch mich sofort nach Forchheim holen, was
allerdings in der damaligen politischen Situation auf legalem Wege nicht
einfach und selbstverständlich war. Schließlich ausgestattet mit allen
notwendigen Genehmigungen, Nachweisen und der Mithilfe und Unterstützung des
Roten Kreuzes durfte Maria mich in Leipzig abholen und nach Forchheim bringen.
Am 7. Mai 1946, meinem 4. Geburtstag, waren wir dann in unserer „neuen Heimat“
wieder eine Familie - allerdings ohne unsere gute und für immer geliebte Mutti.
Wir hätten sie in der nun kommenden schwierigen Zeit des Neuanfangs so sehr
gebraucht.
Auf meiner Internetseite „leobschütz-oberschlesien.de“ schrieb ich
vor vielen Jahren: „Jede Vertreibung, Deportation oder zwangsweise
Umsiedlung von Menschen ist Unrecht, wie jedes Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Die Erinnerung daran soll alle Menschen, insbesondere künftige
Generationen, sensibilisieren und dazu beitragen, dies als Mittel der Politik
für immer zu ächten.“
(Bericht nach Tagebuchaufzeichnungen meiner Schwester Lydia - veröffentlicht im Leobschützer Heimatblatt 2023, Heft 1 bis 3 - Kurt Sander, Rabenweg 17, 89278 Nersingen)
Patenschaft der Stadt Oldenburg mit Leobschütz
Am 24. August 1951 beschloss der Rat der Stadt Oldenburg unter Vorsitz von Oberbürgermeister Gustav Lienemann, eine Patenschaft mit der Stadt Leobschütz aufzunehmen. Auslöser war eine Anregung des Verbandes der Ostvertriebenen und der schlesischen Landsmannschaften. Ziel der Patenschaft war es damals, den aus ihrer Heimat vertriebenen Leobschützern eine Stätte zu sein, in der sie ihr Brauchtum und ihre Kultur pflegen und hüten können. Die Stadt Oldenburg hatte in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg über 42 000 Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen, die hier eine neue Heimat gefunden haben. Die Schlesier stellten den größten Anteil der Vertriebenen dar. Allein über 1 700 Vertriebene kamen aus Leobschütz.
Die Patenschaftsurkunde wurde im Rahmen des zweiten Leobschützer Heimattreffens in Oldenburg am 13. Juli 1952 im Oldenburger Rathaussaal durch Oberbürgermeister Lienemann überreicht und von Franz Litzka, dem Sprecher und Vertreter der Leobschützer, entgegengenommen. Es war der sechste Jahrestag, seit dem die letzten Bewohner Leobschütz verlassen mussten. Einige Wochen später wurde in Oldenburg eine „Leobschützer Straße“ benannt, eine mit Wohnblocks für Vertriebene neu bebaute Querstraße des Trommelwegs in Donnerschwee.
Am 22. September 1957 enthüllte in den Parkanlagen gegenüber dem ehemaligen Peter-Friedrich-Ludwig Hospitals in der Peterstraße Oberstadtdirektor Eilers den „Leobschützer Gedenkstein“. Der Gedenkstein ist ein Patengeschenk der Stadt Oldenburg an die Leobschützer und trägt den Text: „Unvergessene deutsche Stadt im Osten – Leobschütz“. Begleitet sind die Worte von der Jahreszahl „1945“ und dem Leobschützer Stadtwappen. Außerdem sind die Namen der Vertreibungsgebiete auf die Rückseite des Gedenksteines geprägt.
Im Jahr 1968 wurde die Leobschützer Rathausglocke in die Obhut der Stadt Oldenburg gegeben. Die Rathausglocke war im Krieg nicht eingeschmolzen, sondern auf den Hamburger Glockenfriedhof gebracht worden. 1951 wurde sie nach Bad Mergentheim überführt. Das Caritaskrankenhaus Bad Mergentheim benötigte damals eine Glocke für seine Krankenhauskapelle. Nachdem die Stadt Oldenburg die Patenschaft für Leobschütz übernommen hatte und nach Fotos und Erinnerungsstücken suchte, kam der Hinweis auf diese Glocke. Am 1. August 1968 wurde zwischen der Stadt Oldenburg und Bad Mergentheim ein Vertrag geschlossen und die Glocke im Oktober 1968 nach Oldenburg überführt, wo sie auf einem Betonsockel im Garten
des Oldenburger Stadtmuseums ruhte.
Am 5. September 2009 fand die Glocke nach über 60
Jahren den Weg zurück ins heutige Polen: Stadtrat Martin
Schumacher übergab sie an Jan Krówka, Bürgermeister von Glubczyce, dem
ehemaligen Leobschütz. Mit der Rückführung der Glocke soll ein Zeichen
der Versöhnung gesetzt werden und die Beziehungen der Vertriebenen aus
dem ehemaligen Leobschütz mit den heutigen Bewohnern von Glubczyce
sollen verbessert und gestärkt werden.
Hauptinhalte der Patenschaft waren die in regelmäßigen Abständen durchgeführten „Leobschützer Heimattreffen“ in Oldenburg. Hier trafen sich seit 1951 im dreijährigen Rhythmus die über das ganze Bundesgebiet verteilt lebenden Leobschützer in Oldenburg. Das bisher letzte Leobschützer Heimattreffen fand am 19. und 20. August 2000 in Oldenburg statt. Die Teilnehmerzahl der aus Leobschütz Vertriebenen am Heimattreffen war in den letzten Jahren rückläufig, da im Verlauf der Zeit viele Betroffene verstorben sind. Es sind keine weiteren Heimattreffen geplant.
Ein weiterer Schwerpunkt der Patenschaft war die Einrichtung einer Heimatstube. In der Patenschaftsurkunde vom 13. Juli 1952 heißt es, „Die Stadt Oldenburg will den aus ihrer Heimat vertriebenen Leobschützern eine Stätte sein, in der sie ihr Brauchtum und ihre Kultur pflegen und hüten können.“ Alte Adressbücher, Schriftgut, Fotos, Gebrauchsgegenstände und vieles mehr wurde zusammengetragen, um es als aufschlussreiche Sammlung der Nachwelt zu erhalten. Im November 1992 beschloss der Leobschützer Heimatausschuss, die „Heimatstube“ in Oldenburg aufzugeben und die Exponate wurden in die „Heimatstube des Kreises Leobschütz“ in Eschershausen, Kreis Holzminden, integriert.
Kontakte mit der Stadt Leobschütz bestehen seitens der Stadt Oldenburg nicht, sondern nur zu den ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern, die über das gesamte Bundesgebiet verstreut leben. Die Kontaktpflege besteht über den Heimatausschuss Leobschütz, dessen Vorsitz sich in Stuttgart befindet.
Die Stadt Leobschütz liegt in Oberschlesien in der heutigen Republik Polen. Leobschütz erhielt 1187 deutsches Stadtrecht. Zum Ende des zweiten Weltkriegs flüchteten die meisten Leobschützer in den westlichen Teil Deutschlands. Die dort Verbliebenen wurden 1945/46 vertrieben. Die Stadt Leobschütz wurde in Glubczyce umbenannt und hat heute circa 14 000 Einwohner.